Gerhard Schmatz bezwingt 1979 den Mount Everest. Seine Frau Hannelore steht als erste Deutsche auf dem Gipfel - beim Abstieg kommt sie zu Tode: Am Rande des Lebens (2024)

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ULM, im Mai. Der Turm des Ulmer Münsters ist 161,53 Meter hoch. Auf einer Tafel steht, es handle sich um den höchsten Kirchturm der Erde. 768 Stufen führen zu einer Plattform, von der gelegentlich die Zugspitze zu erkennen ist. Wer einigermaßen in Form ist, wird den Drang verspüren, diesen Turm zu besteigen. Es zieht einen hinauf, ohne dass man beschreiben könnte, was dieses "Es" eigentlich ist. Die Rekordhöhe? Die Erwartung einer spektakulären Aussicht? Oder ist es die Lust an der Strapaze? "Waren sie schon oben?", fragt Schmatz, der Bergsteiger. "Sie müssen da unbedingt hoch." Er steht im Flur seiner Villa am Stadtrand von Ulm, ein kleiner Mann in Feincord und Hausschuhen, nichts an ihm wirkt abenteuerlich. Wahrscheinlich bündelt allein die drängende Frage - waren Sie oben? - vieles, was sich über Gerhard Schmatz, seine Frau Hannelore und ihre Faszination für die Berge sagen lässt. Der Mount Everest im Himalaja ist 8 850 Meter hoch. Am 1. Oktober 1979 erreicht der Ulmer Notar Gerhard Schmatz den Gipfel des höchsten Berges der Erde. Schmatz ist so glücklich, wie es ein Mensch unter diesen Umständen sein kann, bei Schneesturm, Auszehrung und minus dreißig Grad. Am Tag darauf steht seine Frau Hannelore oben, sie ist die erste Deutsche auf dem Berg. Beim Abstieg kommt es zu einer Tragödie, die sie das Leben kostet. Das Hochgefühl, den Everest besiegt zu haben, konnte Gerhard Schmatz nur wenige Stunden auskosten. Er hatte den Gipfel gewonnen und seine Frau verloren. Was sucht das Ehepaar in der Todeszone, wie die Alpinisten die Region oberhalb von 8 000 Metern nennen? Was erhoffen sich Menschen von einer Reise an den Rand des Lebens? Schmatz sei ein bergvernarrter Notar, schreibt der bergvernarrte Almbauer Reinhold Messner - 1978 als Erster ohne Sauerstoffgerät auf dem Everest - über den Juristen aus Ulm. Das klingt so hämisch wie es gemeint sein dürfte, ist aber nicht ganz falsch. Schmatz wächst nicht wie Messner im Schatten der Steilhänge auf; er klettert nicht wie dieser als Fünfjähriger seine ersten Wände. Gerhard Schmatz wird 1929 in Regensburg geboren, er studiert in Erlangen Jura. Alles schönstes Flachland. Als Edmund Hillary am 29. Mai 1953 gemeinsam mit Tensing Norgay den Mount Everest besteigt, bereitet sich Schmatz auf sein Staatsexamen vor. Der Everest interessiert ihn nicht. "Ich habe das wahrgenommen, weil die Zeitungen drüber schrieben, aber völlig emotionslos." Zur Kletterei findet er als Spätberufener, wie er sagt. "Es war 1962 beim Urlaub in Berchtesgaden. Ich ging mit Hannelore spazieren und da ist es passiert." Seine spätere Frau hatte Schmatz vier Jahre zuvor in der Kanzlei kennen gelernt, da war sie achtzehn, "die hatte mit Bergsteigen nichts zu tun".Mit dem Urlaub in den Alpen sollte sich das ändern. Am Watzmann beobachten sie eine Seilschaft. Bergsteiger sind zu dieser Zeit so populär wie später Tennisspieler. Die Illustrierten schreiben Bergstorys, im Kino laufen Bergfilme. Schmatz ist vom Höhenvirus infiziert. Er lernt Toni Hiebeler kennen, der als Erster die Eiger Nordwand im Winter durchstiegen hat. Hiebeler bringt ihm das Klettern bei. "Mein Traum war jetzt das Matterhorn", sagt Schmatz. "Wenn ein Kind einen Berg zeichnet, sieht der aus wie das Matterhorn." Diesen Traum erfüllt er sich - wie jeden weiteren. Das ist die wahre Höhenkrankheit, diese treibende Unruhe. Das Unvermögen, einen Berg einfach Berg sein zu lassen. Von jeder Tour bringt sich Schmatz mindestens zwei Pläne für neue Touren mit. "Ich habe in den Alpen fast alles gemacht", sagt Schmatz. "Mein erster höherer Berg war dann der Popocatepetl in Mexiko, 5 452 Meter, ich hatte zu einem Notarkongress meine Wanderschuhe mitgenommen." Zurück in Neu-Ulm, wo sie damals wohnen, suchen er und seine Frau Hannelore nach einem Sechstausender, dann nach einem Siebentausender. So geht das immer weiter. Sie geraten in den Höhensog. Schmatz besteigt den Pik Lenin, 7 134 Meter, den Pik Kommunismus, 7 415 Meter, den Manaslu, 8 163 Meter. Wenn er unterwegs ist, führt sein Sozius die Kanzlei mit dreißig Angestellten. Er steckt sein Vermögen in die Berge. 1977 organisiert das Ehepaar eine Expedition zum Lhotse, 8 516 Meter. "Wenn Sie den Lhotse steigen", sagt Schmatz, "haben Sie den Everest die ganze Zeit neben sich. Dann müssen Sie da rauf." Er habe den Everest gleich "mitmachen" wollen. Das sei zwar verboten gewesen, "aber ich hatte es im Hinterkopf". Man rät ihm ab. Am Lhotse stürzt ein Medizinstudent aus seiner Gruppe zu Tode. Schmatz bricht die Expedition ab. Er selbst verzichtet auf den Lhotse. Zwei Jahre später erfährt er, dass er beim nepalesischen Außenministerium eine Genehmigung für den Mount Everest bekommen hat. Der Berg wird seinerzeit in jeder Saison nur an jeweils eine Expedition vergeben. Schmatz erhält den Zuschlag für Herbst 1979. "Ich habe mit der Hannelore gesprochen. Sie hat gemeint, den machen wir und so nahm das Unglück seinen Lauf." Hannelore Schmatz, neununddreißig Jahre alt, Notariatsgehilfin und Hausfrau, organisiert von ihrer Wohnung aus die Expedition ins Himalaja. Sie schreibt hunderte Briefe, sie bettelt sich bei Sponsoren die Ausrüstung zusammen. Es sei damals noch nicht möglich gewesen, vor Ort in Nepal Material zu bekommen, sagt Schmatz. Alles, was sie für den drei Monate langen Weg zum Everest brauchen, müssen sie in Europa besorgen, in je dreißig Kilo schwere Pakete packen, die später von den Trägern übernommen werden und nach Kathmandu fliegen. Im Sommer gehen elf Tonnen Luftfracht auf den Weg. Dreihundert so genannte Anmarschträger schaffen das Gepäck über 170 Kilometer ins Basislager zu Füßen des Everest. Die Expedition, acht Alpinisten aus vier Nationen und zehn Höhenträger der Sherpa, bricht am 1. September zum Gipfel auf. "Wir mussten Dampf machen", sagt Schmatz, "ab Oktober drohten die Stürme heftiger zu werden." Auf der klassischen Hillary-Route kommen sie so rasch voran wie niemand vor ihnen. Nach vier Tagen haben sie bereits den Khumbu-Eisfall überquert, einen Gletscher, von tückischen Spalten durchzogen. Anders als heute, da das Gebiet mit Aluminiumleitern passierbar gehalten wird, müssen sie sich ihren Weg selber suchen. Sie sind mit dem Berg allein. Am 24. September erreichen sie den Südsattel, dort errichten sie auf knapp 8 000 Metern ihr Lager IV, von wo aus der Gipfel in Angriff genommen wird. Schmatz entscheidet, die Expedition in zwei Gruppen zu teilen. Er selbst steigt mit der ersten Gruppe, die die Spur ins Eis tritt. Am 1. Oktober, 3 Uhr morgens, beginnt er sich für den Aufstieg zu präparieren. Tee kochen und ankleiden dauert hier etwa drei Stunden. "Früh um sechse sind wir dann los", sagt Schmatz. Als Proviant hat er Knäckebrot und Tee mit Zitrone dabei, ungesüßt. Er geht mit dem Sherpa Pertemba am Seil. Sie tragen Sauerstoffgeräte. Am Hillary-Step, einer Felskante, der letzten Hürde auf dem Weg nach oben, bekommen sie Probleme. "Plötzlich war der Schnee weich, die Tritte sind immer wieder ausgebrochen. Das ist ein grausamer Platz, da geht es auf der einen Seite 2 000 Meter runter, auf der anderen 4 000." Sie schaffen es irgendwie. Das letzte Stück des Wegs sei leicht zu gehen, sagt er. Kurz vor 14 Uhr erreichen sie ihr Ziel. Gerhard Schmatz ist mit fünfzig Jahren der bisher älteste Bezwinger des Everest. Neben ihm kauern sich ein Schweizer, ein Deutscher und zwei Sherpas auf dem küchentischgroßen Plateau zur Gipfelrast. Sie packen ihre Wimpel aus, Schmatz hat einen aus Ulm bei sich, sie machen Fotos, trinken Tee. Zu sehen ist wenig, es herrscht Schneetreiben. "Freude war schon da", sagt Schmatz, "aber keine Euphorie. Der Ort ist zu menschenfeindlich, als dass man sich schöngeistigen Überlegungen hingäbe. Jeder da oben sollte sich bewusst sein, dass ihm das Schlimmste noch bevorsteht, nämlich der Abstieg." Wozu dann das alles? "Erklären Sie mir, warum einer sein halbes Leben lang trainiert, um 100 Meter in zehn Sekunden zu laufen. Diese Dinge haben an sich, dass sie im Grunde sinnlos sind. Bergwandern ist sicherlich ein gesunder Sport. Aber Achttausender besteigen macht das Hirn kaputt." Kurz vor Einbruch der Dunkelheit erreicht die Gruppe wieder Lager IV. Dort bereitet sich die andere Hälfte der Expedition auf den Gipfel vor. "Die Hannelore wollte ursprünglich nur bis hierher, zum Südsattel, steigen. Sie fühlte sich dann so gut, dass sie nun auch noch das letzte Stück gehen wollte", sagt Schmatz. "Ich habe ihr abgeraten, aber sie ließ sich das nicht ausreden." Die Nacht verbringen sie gemeinsam im Zelt. Schmatz schläft wie betäubt. "Ich kann mich bloß noch erinnern, dass ich am nächsten Morgen, als sie mit den anderen loszog, geschimpft habe, sie solle nicht solchen Krach machen", sagt Schmatz. Er hat seine Frau nie wieder gesehen. Hannelore Schmatz steigt am Ende der Gruppe, in der Seilmitte zwischen den Sherpas Sundare und Ang Jangbu. Am 2. Oktober, mittags, trifft sie auf dem Gipfel ein. Nach der Japanerin Junko Tabei, die vier Jahre zuvor erfolgreich war, nach einer Chinesin und einer Polin, ist sie die vierte Frau auf dem Everest. Über Walkie Talkie erfährt Gerhard Schmatz, der bereits weiter abgestiegen ist, gegen 18 Uhr, das oben so weit alles geklappt hat. "Wir hatten schon ein bisschen gefeiert", sagt er, als gegen 21.30 Uhr im vorgeschobenen Basiscamp die Meldung eintrifft, dass es beim Abstieg Probleme gibt. Das Wetter schlägt um, die Gruppe reißt auseinander. "Die meisten Unglücke passieren auf dem Weg nach unten, die Kraft lässt nach, man wird müde und passiv, die Motivation ist weg."Was in jener Nacht am Mount Everest wirklich geschehen ist, lässt sich mit letzter Sicherheit nicht rekonstruieren, sagt Schmatz. Der Sherpa Sundare habe ihm die Ereignisse später so geschildert: Hannelore Schmatz sei beim Abstieg noch gut beieinander gewesen. Doch der Amerikaner Raymond Genet, ein Mann, den die Sherpas Bär nannten, bekam Schwierigkeiten. Er mochte dem Schrittrhythmus der anderen nicht folgen und klinkte sich vom Seil los. Dann war sein Sauerstoff alle. "Er ist wohl ausgerastet", sagt Schmatz. Genet habe darauf gedrängt, am Berg zu übernachten, ohne Zelt, ohne Schlafsack, ohne Kocher. Er wollte eine Schneehöhle graben. In 8 500 Meter Höhe ist es so gut wie unmöglich, ein Notbiwak zu überleben. Die Frau und ihre Sherpas mussten sich entscheiden, überlassen sie Genet allein der Natur oder bleiben sie die Nacht bei ihm? Hannelore Schmatz und Sundare blieben, Ang Jangbu sollte Hilfe holen. Ray Genet starb am Morgen. Die beiden Verbliebenen stiegen weiter ab. Auf einer Höhe von 8 300 Metern setzte sich Hannelore Schmatz in den Schnee. Sie konnte nicht mehr. Ihre letzten Worte waren "Water, water", dann starb auch sie. Ihr Mann sagt, "sie muss ja völlig dehydriert gewesen sein". Zum ersten Mal an diesem Tag gerät seine Erzählung ins Stocken. Er faltet die Landkarte mit dem Everest zusammen, zieht die Kanten nach, und wendet sie schweigend hin und her. Konnte er damals gleich begreifen, was geschehen war?"Hoch oben kommt alles nebelartig im Kopf an, aber bei 6 000 Meter habe ich schon gewusst, was das für eine Scheiße ist."Hat er diese Reise je bereut?"Nein, ich glaube schon ein bisschen an Schicksal. Es war Hannelores Entscheidung."Gerhard Schmatz aus Ulm lässt seine tote Frau im Himalaja zurück. "Ich hätte versucht, sie zu bergen, wenn es nur eine kleine Chance dafür gegeben hätte. Aber es ist aussichtslos, aus dieser Höhe eine Tote hinunterzuschleppen." Von den 175 Menschen, die bisher am Everest gestorben sind, ruhen die meisten an seinen Flanken. Der Berg ist längst ein Massengrab. Wieder zu Hause, steht Schmatz mit zwei Tonnen Ausrüstung da und weiß nicht, was damit werden soll. Den Winterurlaub verbringt er mit seiner Mutter am Strand von Acapulco. "Ich bin da nur hin- und hergetigert", sagt er. Im Februar 1980 melden zwei polnische Bergsteiger, sie hätten beim Abstieg vom Everest die Leiche der deutschen Alpinistin gefunden. Schmatz fährt nach Warschau, um die Männer zu treffen. Sie berichten ihm, seine Frau sitze noch am Steilhang. Schmatz vermutet, ein fest gefrorenes Seil halte sie in aufrechter Position. Nachrichten über "Die Tote im Eis" dringen auch in den folgenden Jahren zu ihm. Er selbst ist da längst anderswo unterwegs. Schon im Mai 1980 steht Gerhard Schmatz in Peru auf dem Apamayo, 5 947 Meter. Zurück an den Everest zu gelangen ist nicht so einfach. Die Expeditionen sind auf Jahre im Voraus ausgebucht. Wenn Gerhard Schmatz in diesen Tagen die Sendungen zum Jubiläum der Erstbesteigung sieht, und er verpasst möglichst keine, dann sieht er jedes Mal auch jene Gegend, in der seine Frau gestorben ist. Er konnte sie damals nicht retten und später nicht bergen. In Ulm ließ er für sie eine Totenmesse lesen. Ihr Grab liegt am Mount Everest. Schmatz sagt: "Für mich ist das wie eine Seebestattung." Im Juni wird Schmatz vierundsiebzig Jahre alt. Er ist fit, er wäre bereit, loszugehen. Die Ausrüstung liegt im Keller seines Hauses. Doch allmählich gehen ihm die Ziele aus. Er war überall, auf den "Seven Summits", den höchsten Gipfeln der sieben Kontinente, zu Fuß am Nordpol, auf Skiern in Grönland. Gerhard Schmatz ist wieder verheiratet; er sagt, seine Frau liebe die Berge. Einmal bittet er sie, nach alten Ordnern zu suchen, "die müssen da unten sein, Hannelore". Seine Frau heißt Ursula. Letztens haben sie zusammen den Chimborazo in Ecuador bestiegen, 6 310 Meter. So weit war Schmatz schon einmal, 1969 mit seiner Frau Hannelore."Ich hätte versucht, sie zu bergen, wenn es nur eine kleine Chance dafür gegeben hätte. Aber es ist aussichtslos, aus dieser Höhe eine Tote hinunter- zuschleppen. " Gerhard Schmatz.BERLINER ZEITUNG/MARKUS WÄCHTER Gerhard Schmatz, 73 Jahre alt, im Mai 2003 in seinem Haus in Ulm. Mit einem Diaprojektor hat er ein Bild des Mount Everest an die Wand geworfen.PRIVAT Hannelore Schmatz (r. ) im Herbst 1979, mit 39 Jahren, in einem Camp am Mount Everest. Sie erreichte den Gipfel, den Abstieg überlebte sie nicht.

Gerhard Schmatz bezwingt 1979 den Mount Everest. Seine Frau Hannelore steht als erste Deutsche auf dem Gipfel - beim Abstieg kommt sie zu Tode: Am Rande des Lebens (2024)

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