Dr. Gerhard Schmatz - Mt. Everest (2024)

Als meine Frau Hannelore und ich im Mai 1973 von einer erfolg-reichen Manaslu-Expedition nach Kathmandu zurückgekehrt waren, habe ich beim nepalesischen Außenministerium Antrag auf Genehmigung zur Besteigung des Mt. Everest gestellt. Ich habe damals nicht ernsthaft damit gerechnet, die beantragte Genehmigung zu bekommen. Zu viele einflussreiche Interessenten gab es. Außerdem gehörten wir zu den wenigen, die eine solche Expedition ganz privat auf eigene Kosten, also ohne Unterstützung durch eine alpine Organisation oder eine Regierungsstelle unseres Heimatlandes durchführen wollten.

In den folgenden drei Jahren haben meine Frau und ich, wie schon seit längerer Zeit, jedes Jahr einen der hohen Berge unserer Erde bestiegen, um unsere Erfahrungen im Höhenbergsteigen zu erweitern.

Kurz nachdem wir im Juni 1977 von einer erfolgreichen, ebenfalls von uns organisierten Lhotse-Expedition zurückgekehrt waren, erhielten wir überraschend die Genehmigung zur Besteigung des Mt. Everest für die Nachmonsunzeit 1979.

Umgehend begannen wir mit den umfangreichen Vorbereitungs-arbeiten. Nun war wieder Hannelore an der Reihe. Sie war geradezu ein Genie, wenn es um die Beschaffung und den Transport von Expeditionsmaterial ging. Damals musste noch alles, was wir und die Sherpas während der Expeditionsdauer von ca. 3 Monaten benötigten, in Europa erworben und nach Nepal befördert werden, denn seinerzeit war es nicht möglich, in Kathmandu geeignete Nahrungsmittel oder irgendwelche Ausrüstungsgegenstände zu bekommen.

Um all das zu beschaffen, schrieb Hannelore hunderte von Briefen und hat dann alles mit einem gesponserten Truck selbst zusammengekarrt. Monatelang hat sie, teils mit Unterstützung von Kameraden, in einer Lagerhalle das mehrere Tonnen schwere Material in Lasten von je 30 kg abgepackt, die von den Trägern direkt übernommen werden konnten. Eine gigantische Arbeit.

Außer Hannelore und mir gehörten noch sechs weitere sehr erfahrene und erfolgreiche Höhenbergsteiger zum Team:

  • der Neuseeländer Nick Banks,
  • der Schweizer Hans von Känel,
  • die Deutschen Tilman Fischbach, Günter Kämpfe, Hermann Warth und
  • last but not least der Amerikaner Ray Genet, den Hannelore und ich 1978 bei der Besteigung des Mt. McKinley kennengelernt haben. Er hat in Talkeetna am Fuß des Mt. McKinley, der oft als kältester Berg der Welt bezeichnet wird, gelebt und dort Expeditionen geleitet und begleitet. 35 mal war er auf dem Gipfel dieses kalten Berges.

Während Nachmonsun-Expeditionen früherer Jahre mit dem Anmarsch keinesfalls vor September begannen, beabsichtigten wir, ebenso wie die britische Everest-Expedition des Jahres 1975, noch während der Regenzeit aufzubrechen, um das Basislager schon in der ersten August-Hälfte zu erreichen. Dadurch wollten wir die im Oktober einsetzende Kälte, vor allem aber die dann häufig auftretenden orkanartigen Höhenstürme (Jetstream), vermeiden.

Nach unserem Eintreffen in Nepal wurde uns jedoch vom Ministerium eröffnet, dass wir Kathmandu frühestens am 10. August verlassen und das Basislager nicht vor dem 1. September errichten dürften. Nach zähen Verhandlungen wurde uns wenigstens gestattet, mit dem etwa 250 km langen Anmarsch, der normalerweise 20 Tage dauert, schon am 31. Juli zu beginnen, so dass uns hierfür ein voller Monat zur Verfügung stand. Ein Umstand, der unserer Akklimatisation sehr zustatten kam, den Zeitverlust aber nicht ausgleichen konnte.

Nach Errichtung des Basislagers machten wir uns an die Erkundung des Khumbu-Eisfalles, um ihn anschließend mit Leitern und Fixseilen gangbar zu machen. Die Schnee- und Eisverhältnisse waren miserabel. Trotzdem konnten wir schon am 4. September auf ca. 5.900 m oberhalb des Eisfalles unser erstes Hochlager aufbauen. Das anschließende "Tal des Schweigens" (Western Cwm) machte uns, obgleich es relativ flach ist, schwer zu schaffen. Wir mussten riesige Gletscherspalten und viele senkrechte Abbrüche über-
winden, ehe wir auf ca. 6.300 m unser Lager II errichten konnten.

Die folgende Lhotse-Wand war tief verschneit und hatte sich gegenüber 1977 so verändert, dass wir im unteren Teil eine völlig andere Route suchen mussten. Auf etwa 7.200 m wurden in der Wand im Schutze eines senkrechten Eisabbruchs die Zelte des Lagers III aufgestellt.

Auf unserem Weiterweg überkletterten wir in einer Höhe von ca. 7.500 m das sogenannte Gelbe Band, ein charakteristisches, das ganze Everest-Lhotse-Massiv durchziehendes helles Felsband. Anschließend musste der Genfer Sp*rn traversiert werden, um das Südcol (7.986 m), den tiefsten Punkt des vom Lhotse zum Everest ziehenden Grates zu erreichen, auf dem wir unser letztes Hochlager am 24. September errichtet haben.

Schon vor Beginn der Expedition hatte Hannelore mehrmals das Südcol als ihr Ziel bezeichnet. Nachdem sich bisher gezeigt hatte, dass sie, ebenso wie alle anderen Teilnehmer, in ausgezeichneter körperlicher Verfassung war, wollte auch sie versuchen, den Gipfel zu erreichen. Um aber jederzeit umkehren zu können, ohne einen ihrer Kameraden um die Gipfelchance zu bringen, wollte sie mit zwei erfahrenen Sherpas als selbstständige Seilschaft gehen.

Als wir nach Errichtung des Lagers am Südcol schon alle Vorbereitungen für die Endphase getroffen hatten, wurden wir von einem mehrere Tage dauernden Schneesturm zum Abstieg ins Basislager gezwungen. Dort beschlossen wir, um schneller zu sein, künftig nicht mehr in drei, sondern nur noch in zwei Gruppen zu gehen.

Zur ersten Gruppe gehörten neben Hermann und Hans zwei Sherpas und ich, als Expeditionsleiter. Wir wollten die Spurarbeit übernehmen und Hannelore damit nicht belasten. Die zweite Gruppe bestand aus den restlichen fünf Teilnehmern sowie drei Sherpas.

Am 28. September besserte sich das Wetter wieder und wir stiegen erneut auf. Nach dreitägigem Anstieg erreicht die erste Gruppe das Lager am Südcol.

Am 1. Oktober ist es dann so weit. Nach einer annehmbar verbrachten Nacht beginnen wir gegen 3 Uhr morgens, uns für den Gipfelgang fertigzumachen. Diese Vorbereitungen, vor allem aber das Teekochen, dauern in dieser sauerstoffarmen Luft wesentlich länger als in den unteren Lagern. Um 6 Uhr endlich sind wir abmarschbereit. An einem Seil gehen Hermann, der Sherpa Lhakpa und Hans, am anderen gehe ich, gefolgt von Sherpa Pertemba. Das Wetter ist mittelprächtig. Unter uns ist eine Wolkenschicht und hoch über uns ebenfalls eine. Aber es ist relativ warm und der gefürchtete Sturm am Grat plagt uns heute nicht. Die Schnee- und Eisverhältnisse sind nicht gut. Wir hätten in dieser dem Wind so sehr ausgesetzten Region niemals so viel und so weichen Schnee erwartet. Teilweise sinken wir bis zu den Knien ein, was in dieser Höhe den Aufstieg ungemein erschwert. Gegen 12 Uhr erreichen wir den Südgipfel des Mt. Everest (8.760 m). Von dort aus sehen wir den weiteren Anstieg. Zunächst ein messerscharfer Eisgrat und dann der sogenannte Hillary-Step, dessen Schwierigkeiten die Erstbesteigung fast verhindert hätte.

Am Hillary-Step haben auch wir Schwierigkeiten. Infolge der Steilheit und der schlechten Schneebeschaffenheit brechen die Tritte immer wieder aus. Der Schnee ist zu weich, um einigermaßen verlässliche Stufen zu treten und zu tief, um Eis für die Steigeisen zu finden. Wie fatal das ist, lässt sich dann ermessen, wenn man weiß, dass dieser Platz wohl einer der schwindelerregendsten der Welt ist. Der schmale Grat bricht nach Osten etwa 4.000 m und nach Westen mehr als 2.500 m ab. Aber dann finden wir im tiefen Schnee einige Griffe im Fels, die uns als Rettungsanker helfen und wir wissen, dass unser Ziel nicht mehr allzu fern sein kann.

Gegen 14 Uhr erreichen wir überglücklich den Gipfel. Wir umarmen uns und freuen uns riesig über den Erfolg. Die Wimpel werden aus dem Rucksack geholt und die üblichen Fotos gemacht. Obgleich es jetzt zu schneien beginnt, vergeht die Zeit wie im Fluge.

Nach etwa einer Stunde brechen wir auf und machen uns an den Abstieg. Wieder ist der Hillary-Step die heikelste Stelle. Am Südgipfel rasten wir nochmals kurz. Der weitere Abstieg verläuft planmäßig und gegen 19 Uhr erreichen wir nach Einbruch der Dunkelheit das Südcol.

Dort ist am Nachmittag bereits die zweite Gruppe eingetroffen, die am nächsten Morgen zum Gipfel aufbrechen will. Man gratuliert zu unserem Erfolg und freut sich mit uns. Als mich Hannelore beglückwünscht hat, schildern ihr Pertemba und ich die schlechten Schnee- und Eisverhältnisse. Wir bitten sie, ihren Entschluss, ebenfalls zum Gipfel zu gehen, aufzugeben.

Hannelore ist etwas ungehalten und sagt, wir sollten ihr doch nicht den Elan nehmen. Günter, der unsere Debatte hört, verweist auf die gute konditionelle Verfassung von Hannelore und meint, dass sie heute ohne jede Schwierigkeit in einer sehr guten Zeit vom Lager III zum Südcol aufgestiegen sei. Nach unserer Unterhaltung kriechen wir in unsere Zelte, um den verdienten Schlaf zu suchen.

Schon um 2 Uhr morgens beginnen die Gipfelkandidaten mit ihren Vorbereitungen. Gegen 5 Uhr verlassen sie das Lager. Als erste Seilschaft gehen Tilman und Sherpa Ang Phurba, als zweite Nick, Günter und Ray und als dritte Hannelore mit den beiden Sherpas Ang Jangbu und Sundare.

Wir, die tags zuvor am Gipfel waren, steigen jedoch so schnell wie möglich aus der Todeszone in das fast 2.000 m tiefer liegende Lager II ab. Besorgt schauen wir immer wieder zum Himmel, da sich das Wetter zusehends verschlechtert. Wir glauben nicht, dass unsere Kameraden den Aufstieg fortsetzen werden und rechnen mit ihrer Umkehr. Am Abend erweisen sich unsere Spekulationen als falsch.

Als gegen 18 Uhr die erste Seilschaft der Gipfelgruppe am Südcol ist, kommt der Funkspruch, dass neben allen anderen auch Hannelore am Gipfel war. Wir jubeln und freuen uns grenzenlos.

Wir gehen ins Messezelt und feiern ausgelassen den Erfolg. Dabei stellen wir fest, dass unsere Everest-Expedition

  • die zahlenmäßig kleinste war, die den Gipfel erreicht hat
  • die bisher schnellste (32 Tage)
  • und die erste, bei der alle Teilnehmer am Gipfel waren, darunter Hannelore als erste Deutsche und weltweit vierte Frau,
  • mit mir der erste Mensch, älter als 50 Jahre
  • und erstmals mit Hannelore und mir ein Ehepaar den Gipfel erreicht hat.

Unsere Freude wird jedoch gedämpft, als unsere Kameraden gegen 21.30 Uhr über walkie-talkie mitteilen, dass Sherpa Ang Jangbu bei Erreichen des Südcols berichtet habe, Ray, Hannelore und Sherpa Sundare würden am Südostgrat biwakieren. Wir weisen sofort die oben im Lager III befindlichen Sherpas an, am nächsten Morgen sobald wie möglich zum Südcol aufzusteigen, um notfalls Hilfe leisten zu können. Trotzdem halten sich unsere Sorgen in Grenzen, da Ray mit unter den Biwakierenden ist. Er galt am Mt. McKinley als absoluter Experte in Überlebensfragen und im Bauen von Schneehöhlen.

Nun die Schilderung der zur zweiten Gruppe gehörenden Teilnehmer und Sherpas:

Der Aufstieg vollzog sich ebenso wie bei uns planmäßig, wenn man davon absieht, dass sich Ray nach relativ kurzer Zeit vom Seil losgebunden hat und ganz am Schluss allein gegangen ist. Offensichtlich hat ihm der Gehrhythmus seiner Kameraden nicht behagt. Die Wetterverhältnisse waren oben zunächst besser als wir weiter unten vermutet hatten. Günter unterhielt sich noch mit Hannelore kurz bevor ihre Seilschaft den Gipfel erreichte. Dabei hatte er den Eindruck, dass sie keineswegs erschöpft, sondern in guter körperlicher Verfassung war. Da sich das Wetter verschlechterte, blieben alle nur kurze Zeit am Gipfel.

Auch der Abstieg über den Südgipfel verlief normal. Ray, der allein aufgestiegen war, hatte sich auf dem Rückweg der Seilschaft von Hannelore angeschlossen. Als ihm später auf einer Höhe von ca. 8.500 m der Sauerstoff ausging, weigerte er sich weiterzugehen. Er wollte biwakieren. Hannelore und der Sherpa Sundare blieben bei Ray, während der Sherpa Ang Jangbu ins Südcol abstieg. Ray versuchte, eine Schneehöhle zu graben, was ihm wegen des weichen Schnees nur unzureichend gelang.

Mit Einbruch der Dunkelheit setzte ein schwerer Höhensturm ein, der die ganze Nacht anhielt. Am nächsten Morgen starb Ray. Hannelore und Sundare mußten schwer deprimiert ohne ihn den Abstieg fortsetzen. Auf einer Höhe von ca. 8.300 m hat sich dann Hannelore hingesetzt und ist mit den Worten "water, water" gestorben.

Zu diesem Zeitpunkt waren der vom Lager III kommende Sherpa Ang Nawang und Tilman Fischbach bereits im Aufstieg oberhalb des Südcols, um Hilfe zu bringen. Als sie den Sherpa Sundare trafen, machte er die für uns alle unfassbare Mitteilung. Da auch er dem Erschöpfungstod nahe war und offensichtlich Erfrierungen erlitten hatte, nahmen sich die beiden Aufsteigenden sofort seiner an und brachten ihn ins Lager.

All das musste ich im Lager II unter der SW-Wand des Mt. Everest miterleben, ohne die geringste Chance, etwas unternehmen zu können. Ich war so fassungslos, dass ich die Tragweite und die Tragik des Geschehenen nur schemenhaft realisiert habe.

Sicher erfährt man immer wieder von tragischen Unfällen, die eine enge menschliche Verbindung abrupt zerreißen. Aber selbst davon betroffen zu sein an einem so menschenfeindlichen Ort und in einer so extremen Situation ist eine andere, kaum vorstellbare Dimension. Hannelore und ich waren 20 Jahre aufs Engste verbunden, nicht nur im täglichen Leben, sondern auch und gerade in gefährlichen Situationen in den Bergen der Welt auf nahezu allen Kontinenten.

Trotz meiner Fassungslosigkeit war ich gezwungen, das fortzu-setzen, was Hannelore mit so viel Engagement bisher geleistet hatte. Sie wusste in den Lagern im Tohuwabohu der Kisten und Säcke zu jeder Zeit wo das war, was gesucht wurde. Ich war zwar der Expeditionsleiter, aber von den wichtigen Details hatte ich im Einzelfall keine Ahnung. Ich war in meiner unsagbaren Trauer gezwungen, ihr Werk zu vollenden.

Trotzdem kam das Team nach Hause. Ich allerdings ganz allein ohne meine geliebte Hannelore. Ein langer, erfolgreicher, aber unendlich tragischer Weg war zu Ende.

Für Statistiker: Die 8 Expeditionsteilnehmer und die 5 Sherpas, die alle am Gipfel waren, haben in der Liste der Besteiger, die in der Vergangenheit lang und länger geworden ist, die Nummern 90 - 102. Wir haben also die ersten 100 voll gemacht.

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